Autorin: Martina Beck
Stellen Sie sich vor, 22 % aller Gebäude würden einstürzen, 22 % aller Autos nicht starten oder 22 % aller Telefone in unserer Hand explodieren. Unvorstellbar, oder? Doch genau das passiert in der Welt der Softwareentwicklung: 22 % aller Softwareprojekte scheitern. Warum akzeptieren wir das?
Vielleicht liegt es daran, dass gescheiterte Softwareprojekte keinen physischen Müll hinterlassen. Es gibt keine Schutthaufen, keinen Giftmüll oder keine defekten Autos, die entsorgt werden müssen. Doch der digitale Müll ist real und kostet Unternehmen Millionen. Jede Menge Lebensenergie ist hineingeflossen sowie Aufwand und Geld. Ressourcen, die man hätte besser nutzen können.
Was ist digitaler Müll?
Unter digitalem Müll sind alle Softwarelösungen zu verstehen, die nie live gehen und alle Funktionen, die nie genutzt werden, aber trotzdem gewartet und weiterentwickelt werden müssen. Es handelt sich um ungenutzte Software, die Ressourcen verschwendet und die IT-Landschaft unnötig verkompliziert.
Dieser unsichtbare Abfall entsteht oft dadurch, dass zu schnell in die Codierung gegangen wird und zu wenig konzeptionell „vorgedacht“ wird. Man hat das fachliche Problem, welches die avisierte Softwarelösung adressieren soll, noch gar nicht durchdrungen, schon wendet man sich im Projekt der technologischen Antwort zu. Solch eine Art mangelnder Fokus auf ganzheitliche fachliche Gestaltung führt in der Folge zu häufigen Änderungen während der Codierung, jeder Menge Blindleistung auf unterschiedlichen Ebenen und viel digitalem Müll.
Warum scheitern so viele Softwareprojekte?
Laut Studien von Gartner, McKinsey und KPMG verfolgen 72 % der CEOs aggressive digitale Investitionsstrategien. Doch die harte Realität zeigt: 70 % dieser Transformationen scheitern. Die Hauptgründe dafür sind fehlende Benutzerbeteiligung, unklare Anforderungen und häufige Änderungen. Der Fokus bei der Digitalisierung liegt oft auf Technologie, Architektur und Codierung, während die Gestaltung und die fachliche Steuerung der Digitalisierungsaktivitäten vernachlässigt werden. Der Digitalisierung fehlt die Richtung.
Die Lösung: Digital Design!
Hier kommt die Profession des Digital Designs ins Spiel. Digital Designer haben einen ganzheitlichen Blick und gestalten nicht nur einzelne Softwarelösungen, sondern betrachten diese im gesamten Kontext der Anwender. Sie bauen Brücken zwischen der Welt des Business und der technologischen Umsetzung. Dabei wirken Digital Designer nicht nur am Touch Point der digitalen Anwendung. Das fachliche Design setzt sich hinter der Benutzeroberfläche fort. Als fachliche Gestaltung auch „unter der Motorhaube“.
Was ist Digital Design?
Als neue Profession zielt Digital Design darauf ab, mit einem ganzheitlichen Blick in zwei Dimensionen zu wirken:
- Von der wolkigen Idee zur konkreten Umsetzung: Digital Designer nehmen eine zunächst wolkige Idee oder unscharfe Problemstellung und modellieren diese so, dass sie „ready-to-code“ ist. Es geht darum, eine greifbare Vision zu schärfen und diese nach und nach so auszugestalten, dass sie in Code gegossen werden kann.
- Die einzelne Softwarelösung im Gesamtkontext: Digital Designer betrachten nicht nur eine einzelne Softwarelösung, sondern sehen diese im gesamten Kontext der Anwender. Die Softwarelösung wird mit Blick auf die gesamte multimodale Customer Journey modelliert und in diese eingebettet.
Die drei + 1 Kompetenzfelder des Digital Designs
Das effektive Wirken eines Digital Designers fußt auf drei Kompetenzsäulen:
- Gestaltungskompetenz:
Digital Designer lieben es, Neues zu gestalten. Sie haben den Willen zum Ausprobieren, Fehler zu machen, Vorstellungen zu hinterfragen, mehrere Entwürfe zu erstellen und ihr methodisches Handwerkszeug effektiv anzuwenden. - Kompetenz rund ums Software Engineering:
Digital Designer verfügen über Kenntnisse des Software Engineerings in der Breite. Dazu zählen die Softwareentwicklung allgemein, IT-Projektmanagementmethoden, die Dos und Don’ts der agilen Vorgehensweise sowie der Qualitätssicherung und wirtschaftliche Aspekte. - Digitale Materialkunde:
Digital Designer haben den Überblick über die technologischen Möglichkeiten, mit denen sie auf fachliche Herausforderungen antworten können. Sie kennen die Vor- und Nachteile von verschiedenen technologischem Material, Möglichkeiten und Grenzen, Chancen und Risiken. Lebenslanges Lernen ist hier ein Muss: Digital Designer bleiben neugierig gegenüber den neuesten technologischen Entwicklungen und lernen diese schnell einzuordnen.
Eine wichtige Basis für all diese Tätigkeiten rund um das Gestalten von digitalen Lösungen sind die Soft Skills:
Ohne wirklich gut zuhören zu können, geht es nicht. Empathie, Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen, Kommunikations-, Präsentations- und Moderationsfähigkeiten sowie Methoden des Konfliktmanagements sind essenziell. Zudem hilft psychologisches und systemisches Grundlagenwissen. Die Fähigkeit, in einem interdisziplinären Team zu arbeiten, ist ein absolutes Muss.
Digital Design: Die Kunst, Brücken zu bauen.
Digital Design bedeutet, über den Tellerrand zu schauen und Brücken zwischen verschiedenen Welten zu bauen. Es geht darum, die Vielfalt von Perspektiven zu moderieren und im Miteinander etwas Neues zu schaffen. Oft stehen sich die Welt des Business, also die Welt der fachlichen Herausforderung oder Problemstellung, und die technologische Umsetzung „sprachlos“ gegenüber. Hier kommt Digital Designern die Rolle des Brückenbaus zu. Durch Moderation, Kommunikation und Digital Design Tools.
Digital Design als Schirmprofession
Es gibt zahlreiche gestaltende Disziplinen in der Softwareentwicklung. Product Owner sind umgeben von einer Vielzahl an „Gestaltung-Sub-Disziplinen“: User Experience Researcher, User Interface Designer, Interaktionsdesigner, Visual Designer, Service Designer, Business Analysten, Agile Requirements Engineers etc.. Die einzelnen Profile sind teils sehr spitz aufgestellt, andere Profile verstehen sich breiter. Digital Design dient hier als eine Klammer über die verschiedenen Disziplinen, die den ganzheitlichen Blick in den Vordergrund stellt.
Man muss nicht Superman oder Superwoman sein. Eine ganzheitliche Haltung einzunehmen, ist das Geheimnis. Jedem Digital Designer sollte bewusst sein, wo die eigene Kompetenz liegt, wo sie endet und wer deshalb noch an den Tisch zu holen ist, um dem ganzheitlichen Gestaltungsanspruch gerecht zu werden.
Digital Design bedeutet Gestaltung auf drei Horizonten
Um den Gestaltungsraum des Digital Design besser zu erfassen, wurde das Modell der drei Horizonte entwickelt: Shaping, Exploring und Implementing. Die Horizonte sind keine abgeschlossenen Phasen, sondern existieren parallel und beeinflussen sich gegenseitig.
Im Shaping-Horizont gestalten Digital Designer den Rahmen für das digitale Vorhaben. Hier geht es darum, das große Ganze zu formen – fachlich, technisch und organisatorisch. Verschiedene Stakeholder wie Management, Ideengeber und Unternehmensvertreter legen die Ziele, Visionen und Rahmenbedingungen fest. Diese Phase erfordert erfahrene Moderatoren, um Konsens zu finden und den Scope festzulegen. Typische Ergebnisse sind Visionen, ein Big Picture und Roadmaps.
Der Exploring-Horizont widmet sich der Erforschung des Produkts. Das Team zerlegt das große Ganze in Teilaspekte und entwickelt Lösungsansätze. Fragen wie die Strukturierung des Produkts, das Schneiden von Sagas und Epics sowie die Ableitung von User Stories stehen im Mittelpunkt. Pilotnutzer werden einbezogen, um deren Bedürfnisse zu verstehen. Interaktive Workshops und co-kreatives Scribbeln unterstützen die Arbeit. Ergebnisse sind Geschäftsobjekte, Prozesse, UX/UI-Konzepte und eine Story Map mit Epics.
Im Implementing-Horizont geht es darum, das Richtige umzusetzen. Die agile Entwicklung gibt den Takt vor, und das Team muss sich auf Details festlegen. Das Backlog mit Epics und User Stories wird priorisiert und final konzipiert. Fragen zur fachlichen und technologischen Abhängigkeit sowie zur Definition und Akzeptanzkriterien der User Stories sind zentral. Die Zusammenarbeit mit Entwicklern, Systemarchitekten und Testern ist entscheidend. Ergebnisse sind das Product Backlog, Architekturentscheidungen, der Release-Prozess und ein Betriebskonzept.
Die Verantwortung des Digital Design
Die zentrale Verantwortung des Digital Design ist es, diese drei Horizonte stets im Blick zu behalten. Die Digital Designer sollten sich stets die Frage stellen, ob konzeptionelle Entscheidungen auf einem Horizont Veränderungen auf einem anderen Horizont nach sich ziehen. Ziel ist es, Blindleistung zu vermeiden und nur das Richtige zu bauen.
31 % Digital Design Profession gehört in jedes Projekt.
Unsere Erfahrung zeigt, dass Projekte mit mindestens 31% Digital Design Profession an Bord eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, live zu gehen und genutzt zu werden. So wird digitaler Müll so weit es geht reduziert. Wir sollten uns über Folgendes im Klaren sein:
Digitalisierung nimmt in jedem Fall Gestalt an – lassen wir also die Menschen gestalten, die es gelernt haben! Dann geht es auch in die richtige Richtung.
Die Autorin: Dr. Martina Beck ist seit über 25 Jahren Brückenbauerin zwischen Business und IT und Pionierin des Digital Design. Ihr interdisziplinäres Studium der Linguistik und Informatik bereitete den Boden, unterschiedliche Welten zusammenzubringen. Nach ihrer Promotion am Lehrstuhl für Programmiersprachen und Compilerbau ging Martina in Individualsoftwareentwicklung. 2011 wechselte sie zu MaibornWolff und gründete den Bereich Frühe Phasen, den sie 2019 in Digital Design & Engineering umbenannte. Heute ist Martina Geschäftsführerin bei Maiborn Wolff und Botschafterin des Digital Design.