Autor: Dr. Mohsen Ekssir
Die Gebrauchstauglichkeit von interaktiven Systemen wird immer wichtiger – und damit auch die Disziplin des Requirements Engineering für die Gestaltung der Benutzungsschnittstellen von interaktiven Systemen. Was aber sind die Anforderungen und Herausforderungen an das Requirements Engineering für die Berücksichtigung der Usability-Aspekte? Was sind die Hauptaufgaben eines Requirements Engineers für Usability Aspekte und welche Fachkompetenzen sollte dieser mitbringen?
Die Gestaltung von Benutzungsschnittstellen (BSST) in interaktiven Systemen (iSys) hängt von mehreren Faktoren ab. Ein wichtiger Faktor sind soziokulturelle Gegebenheiten rund um das Produkt: Wo wird ein Produkt benutzt und von welchen Usern wird es angewendet? Wird das System in China eingesetzt, in Süd-West-Asien, in Europa oder den USA? Die kulturellen Hintergründe der User spielen dabei eine große Rolle. In verschiedenen Kulturen bilden Menschen Gegenstände und Prozesse der realen Welt unterschiedlich in ihrem Bewusstsein ab. Diese mentalen Modelle beeinflussen die Wünsche und Erwartungen der Menschen an ein System.
Letztendlich sind diese mentalen Modelle dafür verantwortlich, wie ein interaktives System bei den Usern ankommt. Mit anderen Worten: Die Usability (Gebrauchstauglichkeit) ist nicht allein die Eigenschaft eines Systems, sondern die Summe der Eigenschaften eines Systems sowie der Eigenschaften und kulturellen Hintergründe der User dieses Systems.
Gebrauchstauglichkeit von Benutzungsschnittstellen ist wichtiger denn je
Die Gestaltung von Benutzungsschnittstellen hat sich mit der Zeit massiv verändert. Interaktive Systeme werden in Bezug auf interne Abhängigkeiten immer komplizierter und in Hinblick auf Vernetzung und Integration mit anderen Systemen (Schlagwort IoT) erheblich komplexer.
Diese Tatsache kann dazu führen, dass ein kleines Problem innerhalb eines Systems oder Subsystems zu einer Katastrophe eskalieren kann, die den gesamten Verbund betrifft. Die Fehleranfälligkeit von interaktiven Systemen ist sowohl im Stand-Alone-Modus als auch in einem Verbund (IoT) größer geworden. Dies erfordert eine effektive Qualitätssicherung. Dabei sind eine angemessene Handhabung und Bedienung der Benutzungsschnittstellen der interaktiven Systeme besonders wichtig.
Nicht selten hat die falsche Bedienung einer Benutzungsschnittstelle zu massiven Problemen bei der Ausführung bestimmter Funktionen oder Leistungen geführt. Gebrauchstauglichkeitsprobleme können zu ineffizienter Arbeit und damit zu höheren Kosten für Unternehmen führen. Bei schlechter Gebrauchstauglichkeit (GT) der BSST in den eingesetzten iSys verlieren die MitarbeiterInnen täglich Zeit. Schon 10 Minuten verlorene Zeit pro Tag und pro MitarbeiterIn wegen unangemessener Gebrauchstauglichkeit des benutzten interaktiven Systems kann für größere Unternehmen einen immensen Kostenfaktor bedeuten.
Oft haben die Usability-Probleme einen einfachen Grund: „Designers Are Not Users“[1]. Das bedeutet, Designer wissen oft nicht, in welcher Umgebung User ihre Aktivitäten ausführen und wie ihr tatsächliches, reales Umfeld aussieht.
Im Standard ISO-25010 umfasst das Qualitätsmerkmal der Gebrauchstauglichkeit (GT) im Vergleich zu ISO 9126 zwei neue Unterqualitätsmerkmale: Fehlerschutz und Zugänglichkeit (auf Deutsch bekannt als Barrierefreiheit). Dies zeigt, dass die GT Hand in Hand mit immer komplexer und komplizierter werdenden iSys wichtiger geworden ist und weitere Qualitätsanforderungen und Aspekte abdecken soll. Obwohl die Probleme bezüglich der Gebrauchstauglichkeit in der Praxis immer noch nicht als Fehler, den zu beseitigen gilt, beachtet werden, sondern als eine Luxus-Änderung und „nice to have“-Anforderung.
Gebrauchstauglichkeit in Nutzungskontexten
Was aber bedeutet Gebrauchstauglichkeit? Die GT bezeichnet nach DIN EN ISO 9241-210 das Ausmaß, in dem ein Produkt, System oder eine Dienstleistung durch bestimmte User in einem bestimmten Anwendungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.
Die GT kann daher nur im Rahmen eines bestimmten Nutzungskontexts (NK) bewertet werden. Interaktive Systeme werden jedoch in unterschiedlichen NK angewendet. Aus diesem Grund ist es wichtig, die möglichen Nutzungskontexte, die bei der Anwendung eines iSys auftreten können, zu erheben.
Der Nutzungskontext
Was genau ist nun der Nutzungskontext? Der Nutzungskontext, in dem ein iSys verwendet wird, besteht aus der Kombination der folgenden Faktoren:
- User (und sonstige relevante Stakeholder)
- Ziele
- Aufgaben
- Ressourcen
- Umgebung
Abb. 1: Darstellung des Nutzungskontextes, Quelle: Dr. Mohsen Ekssir
Dabei kann die Umgebung aus technischer, physikalischer, sozialer, kultureller und organisationsbezogener Sicht betrachtet werden. [2]
Das untenstehende Beispiel soll die Mannigfaltigkeit von unterschiedlichen Nutzungskontexten für eine Softwareanwendung für Online-Bestellung von Blumen darstellen:
- User
- Stefan, 21 Jahre, Student
- Angelika, 45 Jahre, Hausfrau
- Robert, 76 Jahre, Rentner
- Peter, 59 Jahre mit Farbfehlsichtigkeit (Rot/Grün-Sehschwäche)
- Ziele
- Bestellen und liefern lassen von Blumen für ein Hochzeitsfest an eine Adresse im Ausland
- Bestellen und liefern lassen von Blumen für eine Trauerfeier an eine Adresse im Inland
- Aufgaben
- Über die Webseite die relevanten Blumen suchen
- Informationen über den Preis erheben
- Ressourcen
- User hat genügend Zeit
- User ist unter Stress und Zeitdruck und hat nur 5 bis 10 Min. Zeit
- Zahlung mit der Kreditkarte
- Zahlung mit dem Zahlschein
- Umgebungen
- Zuhause mit dem Einsatz eines Laptops
- Zuhause mit dem Einsatz eines Tablets
- Unterwegs in der Bahn mit dem Einsatz eines Handys
Wie bei so einem einfachen Beispiel zu sehen ist, können unterschiedliche Konstellationen in Bezug auf den Nutzungskontext eines interaktiven Systems auftreten. Nur ein Bruchteil der relevanten NK ist im Beispiel oben erwähnt worden. Somit kann die Anzahl der möglichen NK nach oben explodieren. Abhängig von der Kritikalität eines Systems oder seines Umfelds sollen die NK intensiver oder weniger intensiv berücksichtigt werden, da die Nutzungskontexte die Gebrauchstauglichkeit eines interaktiven Systems massiv beeinflussen und mitbestimmen.
Iterative menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme
Der Prozess der Erhebung, Dokumentation, Abstimmung und Validierung sowie die Verwaltung der Anforderungen an die Gestaltung der Benutzungsschnittstellen von interaktiven Systemen mit Berücksichtigung der Usability-Aspekte ist keine einmalige Tätigkeit, die durch ein Big-Bang-Prinzip zu erledigen ist. Vielmehr ist er ein iterativer Vorgang, der schrittweise durchgeführt und komplementiert werden soll.
Bei innovativen Projekten sind insbesondere die iterative Gestaltung und Anpassbarkeit der Benutzungsschnittstellen der interaktiven Systeme zu beachten.
Abb. 2: menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme nach dem Standard 9241: 210, 2019, Quelle: Dr. Mohsen Ekssir
Wie in Abbildung 2 zu erkennen ist, besteht der Prozess der menschzentrierten Gestaltung eines interaktiven Systems aus sechs Hauptschritten und mehreren Iterationen zwischen dem Schritt 5 und den Schritten von 2, 3 und 4.
Was sind die Hauptaufgaben eines Requirements Engineers für Usability-Aspekte?
Zu den wichtigsten Aufgaben des Requirements Engineers für Usability-Aspekte gehört es, die relevanten Nutzungskontexte zu erheben und die daraus resultierenden Benutzererfordernisse (User Needs) sowie die Anforderungen an das System zu ermitteln und diese zu dokumentieren.
Kurzgefasst gehören folgende Aktivitäten zu den Aufgaben eines Requirements Engineers für Usability-Aspekte:
- Relevante Nutzungskontexte verstehen und entsprechend festlegen
- Repräsentative User (Personas) identifizieren
- diese in ihrem realen Umfeld beobachten und befragen, um ihre Bedürfnisse zu bestimmen
- Merkmale der User wie Ausbildung, Kompetenzen, physische Merkmale, Vorlieben, Gewohnheiten, Fertigkeiten, kulturelle Hintergründe usw. berücksichtigen
- Ziele, Aufgaben sowie die möglichen Ressourcen der User identifizieren
- Identifikation der technischen, sozialen und kulturellen Umgebung des Systems
- Festlegung der Benutzeranforderungen
- Methodische Identifizierung von Benutzererfordernissen und Benutzeranforderungen (auch als User Story) für bestimmte Nutzungskontexte
- Identifizierung und Festlegung der Gebrauchstauglichkeitsanforderungen und -ziele bezüglich der Effektivität, Effizienz und Benutzerzufriedenstellung
- Beispiel für Effektivität: 90% der User einer Webseite in einem bestimmten NK sind in der Lage, einen Blumenstrauß für ein Hochzeitsfest im Ausland bestellen und liefern lassen.
- Beispiel für Effizienz: 75% der User einer Webseite in einem bestimmten NK sind in der Lage, innerhalb von 10 Minuten einen Blumenstrauß für ein Hochzeitsfest bestellen und liefern lassen.
- Berücksichtigung der Grundsätze der Dialoggestaltung nach dem Standard ISO 8241-110 sowie Berücksichtigung der relevanten Heuristiken wie z. B. von Jakob Nielsen
- Iterative Anpassung der festgehaltenen NK und Benutzeranforderungen aufgrund der Evaluierung der Gestaltungslösungen aus der Nutzerperspektive
Welche speziellen Qualifikationen sollten Requirements Engineers mitbringen?
Requirements Engineering für Usability-Aspekte ist eine Disziplin, die über die Grenzen des allgemeinen Requirements Engineerings hinausgeht.
Ein Requirements Engineer, welcher die Anforderungen an die BSST eines iSys unter Berücksichtigung der Usability-Aspekte erstellen soll, sollte zusätzlich zu allgemeinen Qualifikationen und Fähigkeiten eines Requirements Engineer, zu denen bspw. Empathie, analytisches Denken, Kommunikations-, Konfliktlösungs- und Moderationsfähigkeiten gehören, noch weitere Qualifikationen und Fähigkeiten sowie zusätzliche Fach-Skills mitbringen. Zu diesen gehören:
- Kenntnisse aus den folgenden Kursen:
- IREB® CPRE Foundation Level Requirements Engineering
- ISTQB® Certified Tester Foundation Level
- ISTQB® Foundation Level Usability Testing
- Kenntnisse über relevante Standards, wie z. B:
- ISO 9241-110 (Grundsätze der Dialoggestaltung)
- ISO 9241-210 (menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme)
- ISO/IEC 25066 (Allgemeines Industrieformat zur Gebrauchstauglichkeit: Evaluierungsberichte)
- Kenntnisse über die vorhandenen Heuristiken bezüglich der Dialoggestaltung (wie z. B. die Heuristiken von Jakob Nielsen)
- Psychologische Kenntnisse bezüglich des Verhaltens der User beim Einsatz der interaktiven Systeme
- Kenntnisse über die kulturellen Hintergründe der User
- Kenntnisse über iterative Vorgehensweisen
Barrierefreiheit
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Barrierefreiheit ein essenzieller Bestandteil der Gebrauchstauglichkeit ist. Sensorische, motorische, mentale sowie kognitive Einschränkungen von Usern erfordern eine besondere Beachtung und Erfüllung ihrer spezifischen Bedürfnisse.
Allein in der EU leben rund 80 Millionen Menschen mit einer mehr oder minder schweren Behinderung – das sind mehr als 15 % der gesamten europäischen Bevölkerung.[3] Zusätzlich zu den Menschen mit Behinderungen sollen auch spezielle Zielgruppen wie Kinder oder Senioren berücksichtigt werden. Im Jahr 2021 waren 20,8 % der EU-BürgerInnen 65 Jahre und älter.[4] In diesem Jahr betrug der Anteil der Bevölkerung im Alter ab 65 Jahren in Deutschland rund 21,9 %.[5]
Das zeigt, dass im Bereich der Barrierefreiheit mit einer großen Anzahl an potenziellen Usern mit besonderen Bedürfnissen gerechnet werden sollte. Das Requirements Engineering ist im Bereich der Barrierefreiheit mit besonderen Herausforderungen konfrontiert: Ein Requirements Engineer im Bereich der Barrierefreiheit sollte u. a. folgende zusätzliche Fachkompetenzen mitbringen:
- Kenntnisse über relevante Standards, Gesetze und Verordnungen wie z. B:
- Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) in Deutschland
- Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz und Behinderteneinstellungsgesetz in Österreich
- Web Content Accessibility Guidelines WCAG
- Psychologische Kenntnisse bezüglich des Verhaltens und der Bedürfnisse spezieller User wie Kinder, Jugendliche und Senioren
- Kenntnisse über die Bedürfnisse der Menschen mit visuellen, akustischen, motorischen und kognitiven Einschränkungen
An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass alle Aspekte des Requirements Engineering für Usability-Aspekte auch für eine angemessene User Experience genutzt werden können – da Usability als Teilgebiet der User Experience zu verstehen ist.
Fazit
Requirements Engineering für Usability-Aspekte wird immer wichtiger und hat sich mittlerweile als eine spezielle Disziplin selbstständig gemacht. Diese Disziplin ist mit neuen Herausforderungen und Aufgaben konfrontiert. Um bestmöglich auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren, sollten Requirements Engineers für Usability-Aspekte spezielle Qualifikationen mitbringen, die u. a. in Trainingskursen erlangt werden und durch spezielle Zertifizierungen nachgewiesen werden können
Quellen
[1] Jakob Nielsen “Usability Engineering”, 1993 by Academic Press, San Diego, CA, USA, Seite 13
[2]Vgl. “ Ergonomie der Mensch-System-Interaktion- Teil 210: Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme”, DIN EN ISO 9241-210, 2011-01, Seite 8
[3] Menschen mit Behinderung in Europa | Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, https://www.stmas.bayern.de/leben-in-europa/behinderung/index.php
[4] EU – Altersstruktur | Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/248980/umfrage/altersstruktur-in-der-europaeischen-union-eu/
[5] Anteil der Bevölkerung im Alter ab 65 Jahren in EU-Ländern 2021 | Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/243939/umfrage/anteil-der-bevoelkerung-ab-65-in-laendern-europas/
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