Autorin: Kim Lauenroth
Auftakt und Motivation
Kommen wir gleich zum Punkt: Die Software- und Digitalisierungsindustrie hat einen ausgeprägten Hang zum Spezialistentum. Es gibt vielfältige Filterblasen, die sich mit ihren jeweiligen Fachgebieten befassen: Testen, Agilität, User Experience, Softwarearchitektur … die Liste ließe sich vermutlich beliebig fortsetzen. Damit wir hier nicht missverstanden werden: Spezialistentum ist eine notwendige Voraussetzung für professionelle Arbeit. Es braucht Profis auf vielen Gebieten, um gute Software zu realisieren und einen guten digitalen Wandel zu schaffen. Allerdings wird Spezialistentum in der heutigen Zeit immer mehr zu einem Problem, da wir vor Herausforderungen stehen, die eine ganzheitliche Perspektive erfordern.
Dieser Beitrag ist eine Streitschrift. Wir sind bewusst etwas provokanter als sonst unterwegs, um ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen und um auf eine gute Lösung hinzuweisen: das Berufsbild Digital Design.
Aber fangen wir nochmal von vorne an.
Eine kurze Geschichte der Softwarewelt – wir sind lange an unseren Herausforderungen gewachsen.
Das Spezialistentum in unserer Branche lässt sich am besten verstehen, wenn man sich die Geschichte der Softwareindustrie anschaut. Ungefähr seit den 1950er Jahren wird Software entwickelt. Software ist als Hilfsmittel gestartet, um etwas mit den Computern zu machen, die als Technologie erfunden wurden; zum Beispiel zur Lösung von mathematischen Problemen oder zum Steuern von Raketen für die Mondlandung.
Hauptmerkmal dieser Zeit war die Tatsache, dass es Menschen gab, die eine Idee davon hatten, was die Software tun soll. Die Herausforderung bestand dann darin, diese Idee in Software zu überführen. Konkret gab es also eine Erwartung und die Software musste diese erfüllen.
Es gab also eine Lücke zwischen Erwartung und Technik, die es zu schließen galt.
Lücken schließen
Das Bild der Lücke ist wichtig, denn im Verlauf der Zeit sind eine ganze Reihe von Lücken aufgetreten, die es zu schließen galt. Die erste Lücke war die Qualität der Software selbst.
Software ist komplex; man kann beim Programmieren schnell Fehler machen. Damit hat sich die Spezialdisziplin des Testens entwickelt.
Im weiteren Verlauf kam es in den 1960ern zur sogenannten Softwarekrise. Softwareprojekte liefen aus dem Ruder, waren zu teuer oder erreichten nicht die gewünschten Ziele. Das war die Geburtsstunde des Software Engineering als Spezialisierung für die Entwicklung.
Ende der 1970er Jahre traten vermehrt Probleme im Bereich der Anforderungen auf, Requirements Engineering betrat die Bühne. In den 1980er Jahren waren die User Interfaces plötzlich ein Problem, da immer mehr Menschen Computer nutzten, sie aber nicht wirklich gut bedienen konnten. Interaction Design als nächste Spezialdisziplin wurde erfunden.
Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre kam das Thema Ergonomie und Benutzbarkeit in den Fokus, durch die Ausbreitung von Computern und Software. Usability Engineering wurde zur nächsten Spezialisierung.
Ende der 1990er kam die User Experience dazu, da Software langsam zum Massenphänomen wurde und die Relevanz guter Benutzererfahrungen als wirtschaftlicher Faktor erkannt wurde.
Dieser historische Abriss ist gewiss unvollständig und etwas oberflächlich, zeigt aber ein wichtiges Muster der Entwicklung der Softwarebranche. Sie hat sich Schritt für Schritt entlang neuer Herausforderungen weiterentwickelt und zeigt damit die Fähigkeit zum Wandel.
Ein Faktor ist hier besonders relevant. Die Herausforderungen waren immer derart, dass sie sich durch neue Spezialisierungen lösen ließen. Es wurde immer eine klare Erwartung formuliert und die Technik konnte folgen.
Die 2000er – Das Verhältnis von Erwartungen und Technologie dreht sich
Mit dem ersten iPhone als Meilenstein in den 2000er Jahren kann man eine neue Entwicklung ausmachen.
Das iPhone steht für vollkommen neue Möglichkeiten im Umgang mit Technologie. Heute, fast 20 Jahre später, hat das Smartphone unser Leben auf eine Weise verändert, die niemand vorausgesehen hat. Daneben sind noch viele weitere Technologien in die Welt getreten, die neue Möglichkeiten versprechen, zum Beispiel Augmented Reality, Blockchain, Cloud Computing und nicht zuletzt Künstliche Intelligenz.
Sie werden jetzt vielleicht denken, dass dies doch einfach nur neue Technologien sind. Wo liegt also das Problem?
Das Problem ist, dass diese Technologien das Verhältnis zwischen Erwartungen und Möglichkeiten umdrehen. Blockchain ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Technologie nach einem Problem sucht, das sie lösen kann. Es gibt gute Anwendungen für die Blockchain-Technologie, aber die wirklichen Killer-Applikationen sind bisher ausgeblieben.
Draft Abbildung der Geschichte
2021 – ChatGPT betritt die Bühne
Das ist nur ein Beispiel für eine vollkommen neue Situation, in der wir uns nun befinden.
Es gibt neue technische Möglichkeiten, die aber nicht mehr durch Erwartungen in eine konkrete Richtung gezogen werden können. Unser Arbeitsfeld dreht sich um, die Kunden fragen uns, was sie mit den neuen Möglichkeiten anfangen sollen.
Diese neue Situation führt dazu, dass sich alle Spezialdisziplinen mit diesen neuen Möglichkeiten befassen und Antworten auf die Fragen unserer Kunden suchen.
Einen echten Schub hat diese Entwicklung durch generative KI bekommen. Konkret kann man diese Entwicklung an der Veröffentlichung von ChatGPT festmachen. Seitdem diese Technologie in der Welt ist, kommt man nicht mehr an ihr vorbei.
Und alle Menschen fragen sich (mal wieder), was man alles damit machen kann.
Ganzheitliche Arbeit ist die Antwort auf ganzheitliche Probleme.
Die Softwareindustrie hat sich also in verschiedenen Spezialdisziplinen entwickelt. Diese Form der Entwicklung war jahrelang gut und richtig, da die Herausforderungen so beschaffen waren, dass man sie durch Spezialisierung lösen konnte.
Diese Kultur der Spezialisierung trifft jetzt auf Probleme, die einen anderen Charakter haben. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von vertrackten Problemen, die sich fortlaufend wandeln und nicht eindeutig definierbar sind.
Diese Probleme können nur gestalterisch und ganzheitlich gelöst werden.
Spezialisten können per Definition solche Probleme nur unzureichend bearbeiten, da sie aus ihrer Spezialperspektive auf das Problem schauen.
Wir brauchen daher als Erweiterung der Spezialisten eine ganzheitliche Perspektive, die auf die ganzheitlichen Herausforderungen reagieren kann.
Diese Perspektive wird durch das Berufsbild des Digital Design vertreten, das der Bitkom 2018 mit dem Digital-Design-Manifest ins Leben gerufen hat und seitdem vorantreibt.
Digital Design als ganzheitliches Berufsbild
Digital Design ist ein Berufsbild, das Menschen zu ganzheitlichen Gestalterinnen und Gestaltern qualifiziert. Vorbild für das Digital Design sind die bestehenden Berufsbilder des Industriedesigns und der Architektur aus dem Bauwesen.
Diese Berufsbilder sind von ihrer Ausrichtung her ganzheitlich orientiert. Für Digital Design bedeutet diese Ganzheitlichkeit, insbesondere die folgenden Kompetenzen:
- in digitalem Material, insbesondere Wissen um die Fähigkeiten und Grenzen digitaler Technologien
- in der Gestaltung digitaler Lösungen im Spannungsfeld der drei Perspektiven Mensch, Wirtschaft und Technologie
- im Entwurf digitaler Lösungen auf verschiedenen Ebenen
- im Bauprozess digitaler Lösungen
Digital Designerinnen und Digital Designer leisten mit ihrem gezielt auf Ganzheitlichkeit ausgerichteten Profil eine wichtige Brückenfunktion zwischen den verschiedenen Spezialdisziplinen und können so dabei helfen, dass die Spezialisten ihre besonderen Kompetenzen einbringen.
Als Vorbild für das Berufsbild des Digital Designers dienen die Berufsbilder des Industriedesigns und der Architektur aus dem Bauwesen. Quelle: pixabay
Ich arbeite schon ganzheitlich, wozu also Digital Design?
An diesem Punkt der Argumentation hören wir oft den Einwand, dass Menschen (z.B. als UX Designer, Requirements Engineer) schon ganzheitlich arbeiten und es doch nicht noch ein Berufsbild braucht.
Das mag in einigen Situationen sicherlich zutreffend sein. Aber aus unserer Sicht haben diese Personen dann schon selbst den Schritt in Richtung Digital Design gemacht, da sie die Notwendigkeit erkannt haben, ganzheitlich zu arbeiten.
Dies ist gut, aber hilft uns als Branche nicht unbedingt weiter. Digital Design ist nicht nur ein Berufsbild, sondern steht für den nächsten Evolutionsschritt hin zu einer Branche, die sowohl Spezialisierung als auch Ganzheitlichkeit klar adressiert.
Ganzheitlichkeit steht im Zentrum des Digital Designs, Quelle: Canva
Ganzheitlichkeit ist Ihr Ding? Dann los …
Ganzheitlichkeit ist als Kompetenz erfolgskritisch. Wir brauchen dringend Menschen, die sich dieser Perspektive verschreiben und diese Kompetenz einbringen. Schauen Sie einfach mal beim Bitkom oder dem IREB DDP vorbei.
Oder lesen Sie einfach weiter, denn im nächsten Artikel wird Martina die Idee des Digital Designs im Detail erklären.